Bildung
Aktueller Stand: Vor UNO-Kinderrechtsausschuss
Letztes Update: 2. Oktober 2024
Kanton: Luzern
Ein Junge mit Autismus-Spektrum-Störung (ASS) wird im Kanton Luzern separativ eingeschult. Die Separation erfolgt, weil die Behörden bei ihm eine Intelligenzminderung vermuten. Diese ist aber nicht diagnostiziert. In der Heilpädagogischen Schule erhält er jedoch keine autismusspezifische Förderung, obwohl der Bedarf unbestritten ist. Gegen diesen Entscheid geht die Familie – unterstützt durch we claim und eine Anwaltskanzlei – vor Gericht.
Kinder mit Behinderungen profitieren in der Regel am meisten von der Schule, wenn sie eine Regelklasse besuchen. Rechtlich gilt deshalb der grundsätzliche Vorrang der integrativen Beschulung gegenüber der separativen Beschulung. Die integrative Beschulung wird in der Schweiz jedoch nur zögerlich umgesetzt. Laut dem Bildungsbericht Schweiz 2023 besuchen in der Schweiz Stand 2020/2021 immer noch über die Hälfte der Schüler:innen mit verstärkten sonderpädagogischen Massnahmen eine Sonderklasse oder Sonderschule.
Oftmals behaupten die Schulbehörden ohne genauere Prüfung, der Besuch einer Sonderschule sei besser für das Kindeswohl. Die Einteilung in eine Sonderschule kann die Bildungslaufbahn des Kindes nachhaltig prägen und auch langfristig zu einem Leben in der Separation führen.
Der UNO-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen kritisierte anlässlich seiner ersten Überprüfung der Schweiz die hohe Sonderschulquote.
Die Hürden für die Schulbehörden, ein Kind separativ zu beschulen, müssen in der Praxis wesentlich erhöht werden. Es braucht verbindliche Standards für einen Sonderschul-Entscheid: Wenn eine Schulbehörde ein Kind trotz Vorrang der Integration separativ beschulen möchte, hat sie einerseits den Sachverhalt vertieft abzuklären (d.h. einholen von Gutachten von auf die jeweilige Diagnose spezialisierten Fachpersonen) und andererseits ihren Entscheid qualifiziert zu begründen (d.h. darlegen und beweisen, dass in der Regelschule das Kindeswohl gefährdet wäre).
Die Einführung einer solchen Praxis wäre ein wichtiger Schritt in Richtung inklusive Bildungslandschaft. Gleichzeitig bedarf es zur Verwirklichung der Inklusion vieler weiterer Anpassungen im Bildungssystem (z.B. Unterstützungsmassnahmen und inklusive Unterrichtsmethoden an den Regelschulen).
Im Alter von drei Jahren wurde bei Midelio eine Autismus-Spektrum-Störung (ASS) diagnostiziert. Gestützt auf eine Abklärung des Schulpsychologischen Dienstes (SPD) ordnete die Dienststelle Volksschulbildung des Kantons Luzern für Midelio die separative Beschulung in einer Heilpädagogischen Schule (HPS) an.
Die Separation erfolgt, weil die Behörden bei ihm eine Intelligenzminderung vermuten. Diese ist aber nicht diagnostiziert. Der SPD gab selber zu, nicht beurteilen zu können, inwiefern die ASS Midelio daran hindere, seine kognitive Leistungsfähigkeit zu zeigen. Eine auf ASS spezialisierte Fachperson wurde nicht beigezogen. Frühere Berichte attestierten Midelio eine gute Intelligenz und Lernfähigkeit, eine schnelle Auffassungsgabe für Neues und insgesamt ein gutes Förderpotenzial.
In der Heilpädagogischen Schule (HPS) erhält der Junge keine autismusspezifische Förderung. Dabei ist die ASS im Gegensatz zur vermuteten Intelligenzminderung diagnostiziert. Der Bedarf an autismusspezifischer Förderung ist unbestritten. Gegen diesen Entscheid ging die Familie vor Gericht.
Sowohl das Bildungs- und Kulturdepartement des Kantons Luzern als auch das Kantonsgericht des Kantons Luzern wiesen die Beschwerde der Familie ab.
Der Fall wurde deshalb ans Bundesgericht weitergezogen. Aber dieses wies die Beschwerde der Familie ab. In seinem Entscheid hielt das Bundesgericht zwar fest, dass die inklusive Schulung in der Regelschule den Normalfall bilden soll. Es anerkannte auch ausdrücklich, dass die Nichteinschulung in die Regelschule eine Ungleichbehandlung aufgrund einer Behinderung darstellt. Dies führt dazu, dass ein Entscheid betreffend Einschulung in die Sonderschule qualifiziert gerechtfertigt werden muss. Das Bundesgericht legte aber nicht fest, welche konkreten Anforderungen eine solche qualifizierte Rechtfertigung erfüllen muss. Im Gegenteil: Gemäss Bundesgericht reicht es bereits aus, dass die nicht näher begründeten Ausführungen der kantonalen Behörden, wonach die erforderliche Betreuung und Förderung in der Regelklasse nicht umsetzbar seien, «nachvollziehbar» sind. Dies gilt gemäss Bundesgericht selbst dann, wenn unklar ist, ob weiterführende Abklärungen durch Fachpersonen zu einem anderen Ergebnis geführt hätten.
Insgesamt wendet das Bundesgericht somit keinen strengen Prüfungsmassstab an und schränkt den Anspruch auf inklusive Bildung erheblich ein. Dies führt dazu, dass weiterhin viele Kinder mit Behinderungen von der Regelschule ausgeschlossen werden.
Mangels Ratifizierung des Fakultativprotokolls zur UNO-Behindertenrechtskonvention (UNO-BRK) durch die Schweiz ist ein Weiterzug an den UNO-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen derzeit nicht möglich. Der Bundesrat wurde mit einer Petition im Oktober 2022 zu dessen Ratifizierung aufgefordert. Dieser Fall wird daher nun an den UNO-Ausschuss für die Rechte des Kindes weitergezogen.
Weiterzug an UNO-Kinderrechtsausschuss
Abweisung Beschwerde durch Bundesgericht
Beschwerde ans Bundesgericht
Abweisung Beschwerde durch Kantonsgericht des Kantons Luzern
Beschwerde ans Kantonsgericht des Kantons Luzern
Abweisung Beschwerde durch Bildungs- und Kulturdepartement des Kantons Luzern
Beschwerde an das Bildungs- und Kulturdepartement des Kantons Luzern
Verfügung Dienststelle Volksschulbildung betreffend separative Sonderschulung
Urteil
Weiter zu Bundesgerichtsurteil vom 25.01.2023
Kommentar
Weiter zu vpod bildungspolitik (S. 10-12)
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