Medienmitteilung
12—05—22Eine Frau mit Behinderung wirft einem öffentlich-rechtlichen Arbeitgeber des Kantons Genf Diskriminierung vor. Das Bundesgericht hebt nun die Tragweite der UN-Behindertenrechtskonvention in einer solchen Konstellation deutlich hervor. Es kommt zum Schluss, dass die Vorinstanz die Vorwürfe der Frau nicht genügend abgeklärt hat. Das kantonale Gericht muss nun erneut über die Bücher. Aus Sicht von Menschen mit Behinderungen und von Inclusion Handicap ein wichtiger Erfolg.
Julie (Name geändert), die an Multipler Sklerose erkrankt ist, verlor rund ein Jahr nach der Geburt ihrer Tochter ihre Arbeit beim Hospice général, einer öffentlich-rechtlichen Sozialhilfeeinrichtung des Kantons Genf. Sie hatte dort seit 2017 zur Zufriedenheit ihres Arbeitgebers gearbeitet. Dieser hatte ihren befristeten Vertrag mehrfach verlängert. Die Auswirkungen ihrer Krankheit wurden durch die Schwangerschaft verstärkt. Obwohl ihre behandelnde Ärztin ihr eine (eingeschränkte) Arbeitsfähigkeit bescheinigte, weigerte sich das Hospice général, ihren Vertrag zu verlängern. Dies trotz seiner ständigen Praxis, Personal zunächst befristet einzustellen und es bei Zufriedenheit dauerhaft zu beschäftigen. Und dies obwohl mehrere entsprechende Stellen verfügbar waren und Julie sich ordnungsgemäß beworben hatte. Zuvor hatte sich der Vertrauensarzt des Arbeitgebers gegenüber der behandelnden Ärztin abfällig über die Beschwerdeführerin geäussert: «Madame fait désordre dans les locaux et choque» (sinngemäss: «Madame passt nicht in den Räumlichkeiten und schockiert»).
Die kantonale Instanz weigerte sich jedoch, diese verschiedenen Elemente zu berücksichtigen, die behandelnde Ärztin als Zeugin anzuhören und den Arbeitgeber anzuweisen, Dokumente über die Praxis bei der Einstellung und Weiterbeschäftigung von Personal vorzulegen.
Bundesgericht will den Fall neu beurteilt haben
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde der betroffenen Frau gut, und weist sie an die Vorinstanz zurück. Es fordert das Kantonsgericht auf, den Fall neu zu instruieren und zu entscheiden. Weil sich die Vorinstanz weigerte, die von der Beschwerdeführerin vorgeschlagene Zeugin einzuladen sowie Beweisobjekteeinzuholen, hat sie deren Recht auf rechtliches Gehör (Art. 29 Abs. 2 Bundesverfassung; BV) verletzt, so die Richter:innen aus Luzern. Denn Zeugin und Beweisobjekte hätten möglicherweise aufgezeigt, dass der öffentlich-rechtliche Arbeitgeber die Beschwerdeführerin aufgrund ihrer Behinderung diskriminiert hat. Eine solche Diskriminierung lässt sich nicht mit der UN-Behindertenrechtskonvention (BRK) und der Bundesverfassung (BV), allenfalls auch nicht mit dem Bundesgesetz über die Gleichstellung von Frau und Mann (GlG) vereinbaren.
BRK wird ernst genommen
Inclusion Handicap hat die Beschwerdeführerin im Verfahren vertreten und ist über den Entscheid sehr erfreut: Auffällig ist, dass das Bundesgericht den Schutz, den die BRK Menschen mit Behinderungen im Erwerbsleben gewährleistet, ins Zentrum seiner Argumentation stellt. Es hält zum ersten Mal fest, dass das Verbot der Diskriminierung wegen einer Behinderung (Art. 5 BRK, hier auch in Verbindung mit Art. 27 Abs. 1 BRK) die kantonalen Behörden bei Bedarf verpflichtet, angemessene Vorkehrungen am Arbeitsplatz zu treffen. Es erinnert zudem daran, dass dieses völkerrechtliche Verbot der Diskriminierung für Schweizer Gerichte direkt anwendbar ist. Welche Folgen das Vorhandensein einer Diskriminierung haben wird, sollte sie vom Kantonsgericht neu bejaht werden, lässt das Bundesgericht zwar ausdrücklich offen. Unmissverständlich hat es aber dem Kantonsgericht zu verstehen gegeben, dass bei Fragen rund um die Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen im Bereich der Arbeit sowohl die BRK als auch die BV ernst zu nehmen sind.
Hintergrundinformationen
Urteil des Bundesgerichts vom 14. April 2022, 8C_633/2021
Allgemein zur Arbeitssituation von Menschen mit Behinderungen in der Schweiz:
Abschliessende Bemerkungen des BRK-Ausschusses zum Initialstaatenbericht der Schweiz vom 25. März 2022 (siehe Art. 27 BRK, Ziff. 51 und 52)
Aktualisierter Schattenbericht von Inclusion Handicap, 2022 (siehe Art. 27 BRK, S. 85 ff.)
Rechtsprechung des BRK-Ausschusses im Zusammenhang mit Art. 27 BRK: siehe beispielsweise BRK-Ausschuss V.F.C. v. Spain, CRPD/C/21/D/34/2015 (2. April 2019) betreffend Nichtanpassung des Pflichtenheftes eines Polizisten mit Behinderung.