Blick auf einen Büroarbeitsplatz mit einem Bildschirm, einer Tastatur, einem Mobiltelefon und einem Laptop. Zwei Personen sitzen am Pult, befinden sich aber nur bis zu den Schultern im Feld. Sie haben jeweils ein Klemmbrett vor sich und zeigen mit einem Stift darauf.

Mehrfache Diskriminierung durch kantonalen Arbeitgeber

Arbeit

Aktueller Stand: Abgeschlossen

Letztes Update: 2. Oktober 2024

Kanton: Genf

Worum geht es?

Ein kantonaler Arbeitgeber weigert sich, den befristeten Arbeitsvertrag einer jungen Mutter mit Multipler Sklerose trotz Zufriedenheit mit ihrer Arbeit in einen unbefristeten Arbeitsvertrag umzuwandeln. Dabei entspricht es seiner ständigen Praxis, Arbeitnehmenden nach einer zuerst befristeten Anstellung bei Zufriedenheit einen unbefristeten Arbeitsvertrag auszustellen. Die junge Mutter bringt diesen Entscheid – unterstützt durch we claim – vor Gericht. Sie macht eine mehrfache Diskriminierung durch ihren Arbeitgeber aufgrund ihres Geschlechts und ihrer Behinderung geltend. Das Gericht heisst ihre Beschwerde gut, stellt eine mehrfache Diskriminierung fest und spricht ihr eine Entschädigung zu.

Hintergrund

Die Schweiz hat sich mit der Ratifizierung der UNO-Behindertenrechtskonvention (BRK) verpflichtet, Diskriminierungen aufgrund von Behinderungen im Zusammenhang mit Arbeitsverhältnissen zu verbieten. Dabei stellt gemäss der BRK auch die Verweigerung von angemessenen Anpassungsmassnahmen am Arbeitsplatz, wie etwa ein angepasster Tisch, eine Diskriminierung dar. Der Diskriminierungsschutz im Schweizer Recht ist diesbezüglich unzulänglich.

Ziele

Das Recht von Menschen mit Behinderungen auf Schutz vor Diskriminierungen im Zusammenhang mit Arbeitsverhältnissen wird gestärkt und eine Rechtsprechung zum Anspruch auf angemessene Anpassungsmassnahmen am Arbeitsplatz erwirkt. Es wird sichtbar, dass Frauen mit Behinderungen oft mehrfacher Diskriminierung ausgesetzt sind. Gleichzeitig werden die inhaltlichen Unterschiede zwischen dem Bundesgesetz über die Gleichstellung von Frau und Mann (Gleichstellungsgesetz, GlG) und dem Bundesgesetz über die Beseitigung von Benachteiligungen von Menschen mit Behinderungen (Behindertengleichstellungsgesetz, BehiG) aufgezeigt.

Fallgeschichte

Eine junge Mutter, die an Multipler Sklerose erkrankt ist, verlor rund ein Jahr nach der Geburt ihrer Tochter ihre öffentliche-rechtliche Arbeitsstelle beim Hospice général, der kantonalen Sozialhilfeanstalt. Durch die Schwangerschaft wurden die Auswirkungen ihrer Krankheit verstärkt. Das Hospice général weigerte sich, ihre bis dahin befristeten Arbeitsverträge zu verlängern, obwohl es mit ihrer Arbeit zufrieden war und die Ärztin der jungen Mutter eine (eingeschränkte) Arbeitsfähigkeit bescheinigte. Dabei entsprach es der ständigen Praxis des Hospice général, Arbeitnehmenden nach einer zuerst befristeten Anstellung bei Zufriedenheit einen unbefristeten Arbeitsvertrag auszustellen.

Die junge Mutter reichte daraufhin eine Beschwerde beim Kantonsgerichts in Genf ein. Das Kantonssgericht weigerte sich, die von der jungen Mutter beantragte Anhörung ihrer Ärztin als Zeugin anzuordnen. Es holte auch keine Beweismittel in Bezug auf die ständige Praxis des Hospice général ein, Arbeitnehmenden nach einer zuerst befristeten Anstellung bei Zufriedenheit einen unbefristeten Arbeitsvertrag auszustellen. In der Folge wies es die Beschwerde der jungen Mutter ab.

Gegen das Urteil des Kantonsgerichts erhob die junge Mutter Beschwerde beim Bundesgericht. Dieses kam zum Schluss, das Kantonsgericht habe das rechtliche Gehör der jungen Mutter verletzt, da es zu Unrecht ihren Beweisanträgen auf Anhörung einer Zeugin und Einholung von Beweismitteln nicht gefolgt sei. Diese hätten aus Sicht des Bundesgerichts einen Sachverhalt ans Licht bringen können, der eine Verletzung der BRK, des Diskriminierungsverbotes der Bundesverfassung sowie des Bundesgesetzes über die Gleichstellung von Frau und Mann (Gleichstellungsgesetz, GlG) darstellt. Entsprechend wies das Bundesgericht den Fall für eine bessere Abklärung des Sachverhalts und Fällung eines neuen Entscheids ans Kantonsgericht zurück.

Nach der Durchführung von Parteibefragungen und Zeugeneinvernahmen sowie der Einholung von weiteren Beweismitteln kam das Kantonsgericht zum Schluss, dass die junge Mutter von ihrem kantonalen Arbeitgeber aufgrund ihres Geschlechts und ihrer Behinderung mehrfach diskriminiert worden war. Dies, weil er ihr – entgegen seiner ständigen Praxis – eine Festanstellung aufgrund ihrer Schwangerschaft und ihrer Behinderung sowie damit verbundener Abwesenheit und Reduktion ihres Pensums verweigerte. So wurde unter anderem die behinderungsbedingt eingeschränkte Mobilität der jungen Mutter gegen sie verwendet, um verschiedene Vorwürfe wie mangelnder direkter Austausch und mangelnde proaktive Zusammenarbeit mit ihren Kolleg:innen zu begründen. Gestützt auf das Gesetz über die Gleichstellung von Frau und Mann sprach das Kantonsgericht der jungen Mutter für die erfolgte Diskriminierung aufgrund des Geschlechts eine Entschädigung zu. Im Behindertengleichstellungsgesetz ist keine Entschädigung für Diskriminierungen im Arbeitsbereich vorgesehen. Die erfolgte Diskriminierung aufgrund der Behinderung nahm das Kantonsgericht jedoch zum Anlass, die Entschädigung gemäss dem Gesetz über die Gleichstellung von Frau und Mann zu erhöhen und letztlich auf den Höchstbetrag festzulegen.

Die junge Mutter obsiegte am Ende sowohl vor dem Bundesgericht als auch vor dem Genfer Kantonsgericht. Beide Urteile sind sehr erfreulich und zeigen, wie wichtig es ist, für seine Rechte einzustehen. Insbesondere das Bundesgericht nimmt in seinem Entscheid die BRK als Grundlage zum Schutz der Menschen mit Behinderungen bei öffentlich-rechtlichen Arbeitsverhältnissen ernst. Es erinnert daran, dass das Diskriminierungsverbot der BRK direkt anwendbar ist. Somit können sich Menschen mit Behinderungen vor Schweizer Gerichten direkt auf das Diskriminierungsverbot der BRK berufen. Zudem hält das Bundesgericht zum ersten Mal fest, dass die Verweigerung von angemessenen Anpassungsmassnahmen am Arbeitsplatz eine Diskriminierung im Sinne der BRK darstellt. Das heisst: Kantonale Arbeitgeber:innen sind bei Bedarf verpflichtet, angemessene Vorkehrungen am Arbeitsplatz zu treffen. Neben der Feststellung der mehrfachen Diskriminierung und der erreichten finanziellen Entschädigung wurden damit auch die weiteren gesetzten Ziele erreicht.

Timeline

  • April 2023

    Gutheissung der Beschwerde durch das Genfer Kantonsgericht

  • September 2022

    Parteibefragung und Zeugeneinvernahme am Genfer Kantonsgericht

  • April 2022

    Teilweise Gutheissung der Beschwerde durch das Bundesgericht und Rückweisung ans Genfer Kantonsgericht

  • September 2021

    Beschwerde ans Bundesgericht

  • Juli 2021

    Abweisung der Beschwerde durch das Genfer Kantonsgericht

  • September 2020

    Beschwerde ans Genfer Kantonsgericht

  • Juli 2020

    Entscheid des Hospice général

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